Kounellis, Jannis Ohne Titel (Da inventare sul posto) / Untitled (To invent on the spot), 1972
Partitur aus "La Pulcinella" (Igor Strawinsky), aufzuführen mit einer Ballerina und einem Violonisten. Öl auf Leinwand 248 x 195,5 x 3,3 cm Courtesy: © VG Bild-Kunst, Bonn 2023 Foto: Archiv Sammlung Viehof

Text zum Werk

Je einfacher und überzeugender die Materialwahl, je reduzierter die Formensprache, je eingänglicher die erste Wahrnehmung, umso intensiver wird dem Betrachter der Moment erscheinen, in dem er einer zunächst unentdeckten Dimensionsebene eines Kunstwerkes gewahr wird und hinter die Fassade blickt. Zuweilen kann sich der erste Eindruck sogar ins Gegenteil verkehren. Einem akribischen Dramaturgen gleich inszeniert Jannis Kounellis diese Verschiebung von Schein und Sein in vielen seiner durch einfache Materialwahl bestechenden Werke. Seine Arbeit „Ohne Titel (Da inventare sul posto), 1972“ ist wohl eine der intensivsten Arbeiten. Auf einer großformatigen, zu zwei Dritteln mit blassrosa Pinselschraffuren grundierten Leinwand ist in dünnen schwarzen Noten ein Auszug aus Igor Strawinskys „La Pulcinella“ wiedergegeben. Vor der Leinwand spielt ein Violinist die hinter ihm sichtbare Notenabfolge, zu der eine klassisch gekleidete Ballerina frei improvisierend tanzt. Musik und Tanzbewegungen werden fortwährend wiederholt und nur durch kurze Pausen unterbrochen. Der anfänglich poetische Schein wandelt sich für Betrachter, Tänzerin und Violinist mit zunehmender Zahl der Wiederholungen unweigerlich zum körperlich wie geistig quälenden, jeglichem Ziel beraubten Sein.

Text: Annika Forjahn

Zur Person

geboren 1936 in Piräus
gestorben 2017 in Rom
 

Seine künstlerische Ausbildung begann Jannis Kounellis (geboren als Iannis Kounellis) an der Athener Kunsthochschule. 1956, im Alter von zwanzig Jahren, wanderte er auf Grund der gespannten politischen Situation nach Italien aus, wo aus "Iannis" Jannis wurde. Hier setzte er sein abgebrochenes Kunststudium an der Accademia di Belle Arti fort. Während der ersten Jahre in Rom entstanden vorwiegend Schrift-, Zahlen- und Buchstabenbildern, deren Entstehung durch das gleichzeitige Singen von Buchstaben und Nummern während des Malprozesses eher einer Performance glich. 1960 wurden diese Werke in der Galleria La Tartaruga in Rom ausgestellt. Verstärkt wendete sich Kounellis nun der Aktionskunst zu und begann ab 1963 neue alltägliche Materialien wie Kartoffelsäcke, Schrot, Erde, Holz, Wolle, Glas oder Kohle in seine Kunstwerke zu integrieren. Ab 1967 wird er somit zum Mitbegründer und gleichzeitig wichtigsten Vertreter der Arte Povera. Charakteristisch für Kounellis' Werke war die dialektische Wirkung seiner Werke, die aus der gegensätzlichen Kombination von natürlichen organischen Stoffe wie Stein, Kohle, Wolle oder Haare mit gefundenen vorgefertigten Gegenständen wie Betten, Holzpaletten oder Eisenplatten entstand. 1972 nahm Kounellis auf der Dokumenta teil, in diesem Jahr fand auch seine erste Einzelausstellung in der Sonnabend Gallery in New York statt.