Sasse, Jörg 6544, 2007
Injekt Druck Bildmaß: 100 x 180 © Jörg Sasse Courtesy: © Galerie Wilma Tolksdorf / Jörg Sasse Foto: Archiv Sammlung Viehof

Text zum Werk

Kann man das Frühwerk noch motivischen Werkreihen zuordnen, wird dies bei den Tableaus völlig aufgegeben. Es handelt sich hier um Einzelbilder, die aufgrund der langen Bearbeitungszeit in relativ geringer Zahl entstehen; sie haben unterschiedliche Formate und sind nicht gerahmt. Die Bilder, die Sasse lange Zeit mit dem provisorischen Begriff "computeranimiert" versah und seit 2004 als "Tableaus" bezeichnet, sind auch in Hinblick auf die Motive uneinheitlich: Personen, Landschaften, Handlungen, Abstraktionen, Stillleben etc. - alles ist möglich, was auch im sonstigen Leben photowürdig ist.
Auffälliges Merkmal dieser Bilder ist ihre auf den ersten Blick amateurhaft anmutende Unschärfe. Dieser Eindruck ist trügerisch und erweist sich bei genauerer Betrachtung als Resultat der digitalen Bearbeitung: Erkennbar wird nicht eine Vergröberung des photographischen Korns, sondern die zugrunde liegende digitale Pixelstruktur. Der Bezug zum Amateurhaften ist in anderer Beziehung jedoch zutreffend, denn die den Tableaus zugrunde liegenden und dann von Sasse bearbeiteten Photos stammen keineswegs alle vom Künstler. Sasse greift vielmehr auch auf Amateurbilder zurück, die er auf Flohmärkten oder im Internet erwirbt. Pro Jahr sichtet er mehrere tausend Photos der so entstandenen Sammlung, aus denen nur wenige ausgewählt werden und dann gegebenenfalls einen langen Weg der weiteren Bearbeitung durchlaufen.
Doch zurück zur vermeintlichen Unschärfe der Bilder, die keine solche ist. Sobald der Grund dieser ersten Enttäuschung des Sehens erkannt ist, wird das Vorwissen des Betrachters als (s)eine Hinzufügung zum Sehen thematisiert. Denn unscharf erscheinen die Bilder nur im Verhältnis zu einer stillschweigend vorausgesetzten außerbildlichen Realität, die das Bild aber keineswegs so naiv reproduziert. Jörg Sasse beschreibt die Gefahr des identifizierenden Blicks auf Photos wie folgt: "[...] die Projektionsfläche ist groß und die scheinbare Nähe zur "Wirklichkeit" des Motivs verlockend. Schnell verschwindet dabei das Foto selbst und die Falle des vermeintlichen Wissens schnappt zu".
Sasse interessiert nun die Frage nach dem Übergang von der Dreidimensionalität der Wirklichkeit in die Fläche des Bildes. Auch in dieser Hinsicht erweist sich der Eindruck von Unschärfe als produktiv, denn er trägt zu einer Abstraktion bei, welche die selbstbezüglichen Qualitäten der Bild-Fläche hervorhebt. So scheint der Zug im Bild 6544 (2007) stillzustehen und gleichzeitig in voller Fahrt. Ein Bild kann Geschwindigkeit generell nicht wirklich zeigen, sondern nur glauben lassen. Andererseits ist der Ausschnitt des Bahnwaggons kompositorisch überzeugend ins Bild eingebunden. Die Hülle dieses Waggons, dessen Dach gar nicht gebogen, sondern flach zu sein scheint, wird somit flächig in das Bildgeviert eingespannt. Der eigene Schatten, der in der rechten Bildhälfte auf dem Wagen zu liegen scheint, wirkt auch übermäßig gebogen - oder ist das für den Betrachter ansonsten nicht erkennbare Signal, der Elektromast, die Laterne, wirklich so merkwürdig? Zudem: unterhalb des Zuges verschwindet der Schatten völlig; müsste er nicht auch auf dem leicht schiefen Zaun im Vordergrund seine Fortsetzung finden? Ständige Verunsicherungen durch Wechsel von Schärfegraden, uneinheitliche Farbigkeit und die extreme Ausschnitthaftigkeit eines Motivs, das dann doch nur auf grauen, weißen und roten Farbbahnen beruht und von drei undurchsichtigen schwarzen Rechtecken durchbrochen wird, führen das identifizierende Sehen in eine Sackgasse und laden zur ausdauernden Betrachtung ein.
An dieser Erfahrung eines verunsicherten, da befreiten Sehens anhand von unspektakulären Ansichten, die sich der Erwartung doch verweigern, ändern auch die Bildtitel nichts: Sasses Tableaus werden allein durch eine vierteilige Zahl bezeichnet. Mögen sie zunächst auf eine geheime, dem Betrachter nicht erkennbare Systematik verweisen, wird diese Vermutung schnell ad absurdum geführt, wenn man erfährt, dass die Zahlen durch einen Zufallsgenerator erzeugt werden. Der Titel enthüllt also nichts, bezeichnet nur Abstraktes, hat konsequenterweise keine Verweisfunktion.
Sasse lässt Bilder neu entstehen, die es vorher so nicht gab. Der Anschauungssinn des Bildes wird damit auch auf diese Ebene verabsolutiert, denn Sasse ist auf der Suche nach einer genuinen Ikonizität des Bildes, nach etwas, das mit dem Begriff des "Kerns" nicht richtig zu fassen ist. Dieses Insistieren auf einer eigentümlichen Qualität des Bildes widerspricht der Beliebigkeit im Zeitalter der Bilderflut, die mit den zugrunde liegenden Vorlagen ironischerweise aber wiederum Ausgangspunkt des Schaffens von Sasse ist.

Stefan Gronert, Die Düsseldorfer Photoschule, S. 60-63

Zur Person

geboren 1962 in Bad Salzuflen
lebt und arbeitet in Berlin

Jörg Sasse studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Bernd Bercher. Von 1988 bis 1989 hatte er dann einen Lehrauftrag an der Akademie inne und übernahm danach verschiedene Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen, unter anderem der Universität Duisburg-Essen.

Im Rahmen seines künstlerischen Werks versteht Jörg Sasse die Fotografie niemals als eine bloße Abbildung der Wirklichkeit, sondern er analysiert die Bedingungen, sowohl der Entstehung als auch der Wahrnehmung, des fotografischen Bildes. Im Zentrum dieser künstlerischen Reflexion stehen sowohl Fragen nach der Entstehung als auch nach den visuellen Qualitäten solcher Bilder. Als Grundlage für seine konzeptuelle Arbeit am Bild dienen Sasse sowohl eigene Digitalfotografien als auch vorgefundene Amateuraufnahmen. Die Motive dieser Fotografien sind alltäglich bis banal und stammen aus allen denkbaren Lebensbereichen. Für ihre Bearbeitung setzt Sasse bereits seit Anfang der 1990er Jahre digitale Techniken ein. Dabei wird diese Arbeit am Computer nicht als Manipulation oder Verfälschung des Urbildes gesehen, sondern sie stellt eine Ergänzung der fotografischen Arbeit dar, durch die die von Sasse gesuchte bildliche Autonomie erst möglich sein kann. Durch die Bearbeitung, die jene für das Medium typische Referenz zur Wirklichkeit endgültig löscht, werden die ursprünglichen Farben und Formen verändert und lösen sich an der Oberfläche in einzelne Pixelstrukturen auf. So werden Räumlichkeit und Tiefe auf einmal zur reinen (Projektions-)Fläche. Diese an der Realität gemessenen Unschärfen führen zu einer eigenen, abstrakten Wirklichkeit im Bild, die – vergleicht man sie mit einer herkömmlichen Fotografie – zeitlos und selbstreferenziell ist.